2020-05-01 | |
Man soll sich gesund ernähren, natürlich. Und abwechs- lungsreich. Von allem ein bisschen, heisst es. Das tönt vernünftig – und nicht wirklich neu. Neu hingegen ist die steigende Begeisterung für ganz bestimmte Nahrungsmittel mit besonders positiven Eigenschaften. Es geht unter anderem um Früchte, Beeren, Blattgemüse, Kräuter, Nüsse und Wurzeln mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil an Vitaminen, Mineral- und anderen Inhaltsstoffen.
Superfood? Wikipedia definiert es so: «Der Begriff Superfood wird be- reits seit Beginn des 21. Jahrhunderts verwendet, ist allerdings erst in den letzten Jahren allgemein bekannt geworden. Es findet sich keine offizielle oder rechtlich bindende Begriffsdefinition. Laut dem Oxford English Dictionary wird mit dem Begriff ein ‹nährstoffreiches Lebensmittel bezeichnet, das als besonders förderlich für Gesundheit und Wohlbefinden erachtet wird› [...].»
Die Bezeichnung «Superfood» finden wir hauptsächlich im Detailhandel, der Gastronomie und den Medien. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es sich eher um eine Wortkreation aus dem Marketing als um einen wissenschaftlichen Terminus handelt. Ebenso wenig von der Hand zu weisen ist, dass viele der besagten Nahrungsmittel tatsächlich reich an wertvollen Nährstoffen sind. Es ist dabei wichtig zu betonen, dass es sich um gewöhnliche Lebensmittel handelt, die oft aus fernen Ländern (z.B. dem Amazonasgebiet) stammen und dort seit Urzeiten zur Alltagskost gehören, oder dann in verarbeiteter Form als Nahrungsmittelergänzung (in Pulver- oder Tablettenform) angeboten werden. Und so viel Ehrlichkeit muss sein: Ihre exotische Herkunft unterstützt unsere Sehnsucht nach Gesundheit und Selbstoptimierung, wie es Hanni Rützler, Trendforscherin und Ernährungswissenschaftlerin vom Futurefoodstudio in Wien, einschätzt. Nur existieren bisher zu wenige, wissenschaftlich wirklich stichhaltige Untersuchungen.
Weil keine abschliessende, rechtliche Definition vorliegt, kann man fast alles zum Superfood erklären, was man persönlich für einen sol- chen hält. Entsprechend lang ist die Liste von Superfood-Kandidaten, die aus der fast unüberschaubaren Flut von Artikeln und Büchern zusammengetragen werden kann. Zu den bekanntesten «Exoten» zählen gewiss Algenprodukte wie Spirulina oder Chlorella, Gewürze wie Kurkuma, Extrakte aus Tee, See- oder Weizengras oder anderen Gewächsen. Weiter sind Goji-, Aronja- und Açaíbeeren, Chia-Samen und Fuchsschwanzgewächse wie Quinoa hoch im Kurs. Die Goji-Beere beispielsweise, ursprünglich aus Tibet, hat eine relativ hohe Dichte an wertvollen Nährstoffen wie Vitamin A, B, C, E und anderen Antioxidan- tien. Quinoa-Samen sind glutenfrei, und ihre Nährstoffzusammenset- zung in vielerei Hinsicht derjenigen von Weizen überlegen. Chia-Samen wiederum sind eine gute Quelle für Ballaststoffe, wertvolle Fette und Eiweisse und liefern reichlich Kalzium, Magnesium und Phosphor.
Wie so oft lohnt es sich bei «trendigen» Themen, kühlen Kopf zu be- wahren, einen Blick zurück zu werfen und näher liegende Alterna- tiven zu prüfen. Es überrascht nicht, dass schon unsere Grosseltern und deren Grosseltern heimischen «Superfood» genossen haben – bewusst oder unbewusst. Prof. Dr. med. David Fäh von der Berner Fachhochschule blickt noch weiter zurück: «In einer Zeit der kulinari- schen Einöde müssen die mitgebrachten Gaben der Natur den Men- schen vorgekommen sein wie von einem anderen Planeten. Ihr Po- tenzial konnten sie aber noch nicht einmal erahnen: Tomaten, Mais, Chili, Bohnen, Zucchini und Kartoffeln brachte Columbus von seinen Reisen mit. Niemand würde diese Nahrungsmittel heute als exotisch oder besonders bezeichnen.»2 Andere, einheimische Naturprodukte werden hingegen unterschätzt: Heidel-, Brom- und Himbeeren, Feder- und Rosenkohl, Meerrettich, Feldsalat, Randen, Hanf- und Leinsamen, Buchweizen oder die Walnuss. Auch dies eine unvollständige Aufzählung. Sie können es punkto Zusammensetzung locker mit «Superfood» aufnehmen.
Reto Lampart, ausgezeichnet mit zwei Michelin-Sternen, setzt als Koch auf einheimische, saisonale und frische Lebensmittel: «Wenn wir Nahrungsmittel verwenden, die schonend produziert und vor allem saisongerecht sind, kriegen wir eine grosse Fülle von sehr ge- sunden und nahrhaften Gerichten. Rande, Schwarzwurzel, Pastina- ke, verschiedene Kohlsorten (z.B. Rosen- und Federkohl), Chicorée und die Wurzelpetersilie sind ausgesprochene Wintergemüse – und haben durchaus die Eigenschaften von ‚Superfood‘.»
Im Schweizer Ernährungsbulletin 2019 des Bundesamtes für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV ist zu lesen: «Die gesundheits- und trendbewusste Ernährung lässt sich auch in den Details der Verbrauchszahlen erkennen. Eine deutliche Zunahme weisen z. B. Linsen, Kichererbsen, verschiedene Nüsse (z. B. Cashew), Dinkel und einige Fruchtarten auf». Auch in Deutschland zeigen die Verkaufszahlen 2015/16 eine Verdoppelung innerhalb eines Jahres. Offenbar ist unser nördlicher Nachbar hinter den USA heute weltweit führend, was die Markteinführung von solch optimierten Lebensmitteln und Getränken angeht.
Bei aller Kontroverse scheinen sich Anbieter, Ernährungswissenschaftlerinnen, Ärzte und Trendforscherinnen in einem Punkt einig zu sein: Die gesündeste Ernährung ist abwechslungsreich, saisonal und frisch zubereitet. Angela Clausen von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen würde kein einziges Lebensmittel als Superfood bezeichnen. Jedes Lebensmittel habe einen ganz eigenen Wert durch seine ganz besondere Nährstoffzusammensetzung. Und erst die Komposition der verschiedenen Lebensmittel ergebe eine vollwertige Mahlzeit.